Tag 3 / Etappe 1 "Eine Bergziege geht ihren Weg."


Lisboa - Estoril - Cascais - Cabo da Roca - Sintra - Ericeira



Heute ist es also soweit. Endlich geht es auf die Speedmachine - wir haben volles Go! Ich konnte kaum schlafen, konnte kaum schnell genug aufstehen, konnte kaum schnell genug das Frühstück herunterschlingen, konnte kaum schnell genug Hotelzimmer und das Minibar-Massaker bezahlen. Denn da steht sie im Foyer und glänzt mich in ihrem schönsten Orange an: Mein Liegerad!

Das Virus hatte mich seit der Ankunft in Lisboa infiziert. Schluss mir dem Faulenzen - endlich! Ich bin hier, um Rad zu fahren! Ich lege ein letztes Mal Hand an meine Ausrüstung, verstaue und verschnüre alles sicher. Die Packtaschen sind randvoll gefüllt, oben thront, quasi als stromlinienförmiges Heck, meine zusammengerollte Isomatte, die ich auch gut als Kopfpolster nutzen könnte, daneben aufgeschnallt, der Schlafsack.

Die Maschine ist schwer beladen - so schwer, wie noch nie.

Unter allgemein interessierter Anteilnahme fast des gesamten Hotelpersonals schiebe ich sie nach draußen. Ein letzter Wink, ich gleite in den Sitz. Die Federung gibt nach. Tief hängt sie, meine schwere Maschine - ein erster Tritt in die Pedale. Ich lenke auf dem Kopfsteinpflaster noch etwas ungelenk - die Balance des Rades unterscheidet sich jetzt erheblich von der Speedmachine, die ich kenne. Durch die Konzentration des Schwerpunktes hinten habe ich fast keinen Druck am Vorderrad. Es fährt sich wie auf rohen Eiern, ich brauche einige Minuten, mich hieran zu gewöhnen. Auch ist das normale, rapide Beschleunigen nicht mehr möglich - das Rad ist einfach viel zu schwer.

So kämpfe ich mich die ersten kleineren Anstiege zum El Corte Inglés hinauf bis zum Parque Eduard VII, von wo aus es erstmal ein paar Kilometer bergab bis zum Tejo geht, wo ich die nicht empfohlene Küstenstraße nach Estoril nehmen will.

Ich weiß nicht, ob es am Liegerad liegt, das man hier wohl noch nie gesehen hat, oder ob sich auch in diesem Punkt mein Marco Polo mal wieder geirrt hatte - die portugiesischen Autofahrer sind vorbildlich. Kein Schneiden, kein Drängeln, kein aggressives Hupen - man fährt vorsichtig, hält interessiert Abstand und lässt mich machen. Man lächelt mir im Vorbeifahren zu, manchen winken. Andere Hupen freundlich und recken den Daumen nach oben. Passanten, ganze Straßenzüge, bleiben stehen und drehen sich um. Ein Liegerad, hier in Lissabon? Sowas gabs wohl noch nie. Ich genieße das. Ein bisschen berühmt sein.

Erstaunlich schnell komme ich voran. Der Parque ist flux durchfahren, die Avenida Libertade, die dreispurige Hauptavenue der Stadt, ebenfalls. Ich biege auf die Küstenstraße ein, die mich bis Cascais bringen wird, und beschleunige. Der Asphalt wird immer besser. Es geht schnell voran, den Wind von der Seite, der etwas stört, aber das geht schon.

Und allenthalben fröhliche Zurufe, Winken, ganze halbe Körper, die sich mir aus Autofenstern entgegen recken und winken, spornen an. In Portugal freut man sich also noch über Liegeräder. In Deutschland, auf so einer Straße wie dieser, hätten mich sicher schon 25 Radweg-Nazis angehupt und angebrüllt.
Hier macht das niemand.
Na, hier geht das ja auch nicht - es gibt keine Radwege.

Trotzdem ist der Verkehr der reine Wahnsinn. Ich liege tief - habe also die Abgase genau in der Nase. Gern überrascht der sonst perfekte Fahrbahnbelag auch mal mit einem 30 cm breiten Schlagloch auf offener Bahn oder einer in Fahrtrichtung liegenden, alten und nicht ganz überasphaltierten Straßenbahnschiene. Eine Herausforderung - aber als Speedmachine-Pilot, der die Hamburger Radwege kennt, bin ich abgehärtet.

Leider verpasse ich im rasanten Morgenverkehr die Abfahrt, die mich zum Fußgängerbereich direkt am Tejo-Ufer bringen würde. Nun liegt zwischen mir und dem grünen Traumweg entlang des mächtigen Flusses nicht nur eine 6-spurige Schnellverkehrsstraße in Morgen-Rushhour, sondern auch eine unüberwindliche Bahntrasse, die man nur via Fußgängerbrücken (natürlich ohne schräger Ebene für Rad- oder Rollstuhlfahrer) überqueren kann.
Ich entscheide mich für den Highway und bleibe.

Es geht verdammt schnell. Schon fliegen das Denkmal Padrão dos Descobrimentos, zur Seefahrtstradition Portugals, und der Torre de Belém, der Wehrbau, der damals die Segelschiffe verabschiedet und wieder begrüßt hat, an mir vorbei. Die Fahrt geht über flaches Gelände, so bin ich sehr schnell. Immer wieder hupen und jubeln mir - vor allem junge - Leute aus ihren Autos zu, ich grüße, freue mich, bin so viel Euphorie angesichts eines Liegerads nicht gewöhnt.

Schon habe ich Estoril erreicht. Biege ab, nach Cascais, meistere die erste längere Steigung und habe eine Viertelstunde später auch diese Stadt erreicht. Leider bekomme ich nicht viel mit von der tollen Küstenlandschaft, durch die ich da fliege, da ich mich auf Verkehr und Schilder konzentrieren muss.

Ich bekomme dafür allerdings einen Vorgeschmack auf das, was mich hier erwarten wird - zumindest denke ich das jetzt. Wärme, nein, Hitze. Eine Hitze, wie sie selbst der größte Hochsommer in Deutschland nur schwer produzieren könnte. Unerbittlich glüht die Sonne über mir, Schweiß sammelt sich unter meinem Helm und bald schon glänzen Unterarme und Beine, überzogen von einem Blasen werfendem Film meiner eigenen salzigen Flüssigkeit.

Ich blicke immer wieder nach links, sehnsüchtig, denn dort, keine 1.000 Meter neben mir brandet der Atlantik ans Ufer, verspricht Kühlung. Das azurblaue Wasser, kleine Kabbelwellen und fast schon kann ich das würzige Meeressalz auf den Lippen schmecken - was ich tatsächlich schmecke ist mein eigener Schweiß.

Auto um Auto rauscht an mir vorbei. Ich grüße, denn noch immer hupen und winken enthusiastisch die Insassen. Hochgereckte Daumen signalisieren Achtung vor dem, was ich da treibe. Für die Portugiesen muss ich aussehen wie ein Außerirdischer - tief liegend in einem futuristischen Gefährt, trotzdem archaisch angetrieben nur durch eigener Muskel Kraft, schwer bepackt mit Zelt und Schlafsack.

Wieder kämpfe ich mich im kleinsten Gang des größtes Blattes, so um die 16 km/h schnell, einen Anstieg hinauf. Cascais, die Stadt, in der der ich laut Karte abbiegen muss. Denn mein erstes Ziel naht - das Cabo da Roca.
Kontinentaleuropas westlichster Punkt.

Ich biege ab, kommme ganz nah ans Wasser heran. Neben mir nur der felsige Strand und eine kleine - vorbildlich asphaltierte - Nebenstraße mit sehr wenig Verkehr. Und da passiert es: Ich finde einen Radweg, Mangelware in Portugal. Der Weg ist eben wie ein Spiegel, dabei griffig und durch kleine Poller von der Straße abgetrennt. Hier lässt es sich gemütlicher fahren, ich kann nun sogar beschleunigen auf fast 28 km/h Schnitt, denn da ich nun nach Norden fahre, habe ich den scharfen Lissaboner Seitenwind nun im Rücken.

Da zeichnen sich plötzlich aus dem Dunst des atlantischen Wasserdampfes ganz klare Umrisse ab. Was ich vorher nur als massiven Schatten wahrgenommen hatte, kann ich nun ganz klar sehen. Das muss es sein. Das Kap. Mein Ziel.

Ich halte an, trinke einen Schluck Apfelschorle, gehe kurz runter ans Meer und tauche meine Hände ins kühlende Nass des Ozeans. Dann blicke ich auf. Da muss ich hoch! Da will ich hoch! Weiter gehts, es ist noch recht früh, gegen 11 Uhr, und vielleicht schaffe ich es ja, vor der Mittagshitze - der richtigen Hitze - am Kap zu sein?

Da, ganz weit vor mir, entdecke ich einen Radfahrer. Ein paar Minuten später habe ich ihn ein. Es ist ein braun gebrannter Rennradler in voller Montur. Er gibt sicher nicht sein Bestes, was das schnelle Aufschließen, ja sogar das Überholmanöver erklärt.
Als ich auf seiner Höhe bin, bremse ich ab. "My friend," beginne ich, "is this the right way to Cabo da Roca?"
"Whoa!" macht er, überrascht ob des ungewöhnlichen Rades. "Sim, sim!" stimmt er dann freundlich lächelnd zu, deutet mit seinem Helm zum großen roten Felsen, der sich über den Horizont erhebt: "Cabo da Roca!" stimmt er noch einmal zu.
"So, do you mind if I cycle behind you?" frage ich ihn. Er lächelt wieder, nickt begeistert und so fahren wir im Team.

Die Fahrt geht flott, aber er sieht wohl, dass ich schwer zu schleppen habe, also fahren wir mit nicht mehr als 25 km/h. Langsam zieht auch die Steigung an, es wird heißer. Ich muss heftiger treten, öfter Gänge zurück schalten und freue mich, dass wir nun durch einen Wald fahren, der Schatten und etwas Kühle bietet.

Das Mantra der Kurbelumdrehung. Das vertraute Klackern meiner Shimano Deore XT in den Ohren. So fahre ich hinter meinem Teamkollegen her. Steiler wird es, die Straße schickt sich an, zu einem Serpentinenkurs zu werden.
Noch genieße ich es, denn der Wald, durch den wir fahren, besteht zum größten Teil aus Eukalyptusbäumen. Ein Duft, den ich sehr mag, der mich an mein so sehr geliebtes Sonntagsbad erinnert. Hier draußen ist er schärfer, ungefilterter. Fast brennt er in der Nase, schaufelt aber die Lungen frei, habe ich das Gefühl, schafft Extraplatz für Sauerstoff, den ich nun immer dringender brauche.

Mehr als einmal dreht sich mein Rennradfreund um, fragt, ob alles okay ist. Ich recke dann meinen Daumen nach oben - ja, mein Freund, kein Problem.
In Wahrheit brennen mir die Waden. Aber wer gibt das schon gern zu?

Er lässt sich zurückfallen, ist neben mir, greift in seine Trikottasche auf dem Rücken und holt ein silbriges Knäuel hervor. Er reicht er mir herunter.
"Pastel de Nata?" frage ich. Die Umrisse dieses köstlichen Blätterteig-Vanille-Gebäcks erkenne ich sofort.
"Sim, sim!" freut er sich, "Very good portuguese Food!"

Schon beschleunigt er mit langem, rundem Tritt und setzt sich wieder vor mich. Ein Glück - außer trockenen Müsliriegeln habe ich nichts Essbares bei mir.

Wir fahren mittlerweile fast eine Stunde. Kurvenreich, mal nach Osten, mal nach Westen, schlängeln sich die Serpentinen am Berg, der Serra de Sintra, nach oben. Immer aber geht es aufwärts. Keine Abfahrt belohnt mich für meine Strapazen. Mitten in den Kurven wird es immer besonders steil, die Anstiege dazwischen gehen, wir fahren sie mit flotten 13, 14 km/h.
Ich muss schalten, oft. Mein Rennradfreund, der dazu noch in einem atemberaubend hohen Gang wie in Zeitlupe tritt, schaltet nicht ein einziges Mal.

Ich leide. Merke es aber nicht, da ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, Anschluss zu behalten und meinen eigenen, runden Tritt zu finden.

Dann wird der Wald lichter. Hinter einer Kurve, die an einem blanken, steilen Felsen vorbei führt, hört er ganz auf. Aus dem Schatten treten wir hinaus. In die freie, blanke Sonne. Einerseits ist es befreiend, denn ich fühle die Höhe - mehr als einmal musste ich Schlucken, um den Druck in den Ohren auszugleichen. Jetzt hier oben, ohne Bäume zu radeln ist wie die Bestätigung der Höhe.
Gleichzeitig ist es eine Pein - mächtig brutzelt es, fast scheint es mir, dass die paar hundert Meter, die wir jetzt über Meeresniveau sind, die Intensität der Strahlen verdoppelt hätte.

Erbarmungslos treibt sie den Schweiß aus allen Poren. Merklich verlangsamt hat sich unsere Geschwindigkeit - und merklich steiler wird die Strecke. Nun schaltet auch mein Freund vor mir. Aus den flotten 14 sind 10, manchmal nur 8 km/h geworden. Müdigkeit kriecht die Beine hoch. Eine schmeichelnde, verführerische Stimme, ganz ganz hinten im Kopf, mahnt zu einer Pause. Sagt mir, dass ich hier niemandem etwas beweisen muss. Dass ich kein austrainierter Profi sei.
Ich doch ruhig mal anhalten könnte.
Ich es mir verdient hätte.
Das ächzende Knarren der Schaltung meines Vordermannes bringt die Stimme zum Schweigen - nix mit Anhalten hier! Wir fahren da jetzt hoch. Wir beide. Basta.

Es ist eine erste Lehrstunde in Sachen Motivation. Oft schon habe ich auf meinen Touren schwere Abschnitte erlebt. Nie allerdings dermaßen Strapazen auf mich genommen. Dies ist eine Grenze, die ich hier gerade versetze, sage ich mir. Ich betrete neues Land, mache Dinge mit meinem Körper, die er vorher noch nie gemacht hat.
Diese Erkenntnis und die leckere Nata, die ich gierig verschlinge, spornen mich an.

Irgendwann, wir fahren wieder in ein bewaldetes Stück hinein, kommen wir an eine Kreuzung. Mein Kamerad signalisiert mir, dass ich anhalten soll. So stehen wir nebeneinander. Er deutet nach links: "Cabo da Roca," sagt er und macht eine Bewegung, ich ich mit Freuden aufnehme - er deutet mit der flachen Hand nach unten: "Two Kilometer - down!"
Er grinst.
Ich grinse.
Früchte der Arbeit - 2 Stunden langer, harter Aufstieg, die nun mit einer hoffentlich ebenso spektakulären Abfahrt belohnt werden würden. Mein Herz beginnt zu pochen. Vorfreude quillt in meinen Hals. Meine erste Septentinenabfahrt in diesem Lande steht bevor.

Dann deutet er nach rechts. Und mit der flachen Hand nach oben: "I go here. Up. Mountain." sagt er und lächelt mich an. Unsere Wege trennen sich also.
Ich steige aus, gebe ihm die Hand. Wir lächeln uns zu, wünschen uns alles Gute.
Ich kenne nicht einmal seinen Namen, wir verabschieden uns aber mit "my friend". Wie warm und offen, wie herzlich und freundlich das ist. Gemeinsam 2 Stunden gelitten. Das schweißt wohl zusammen.
Er müht sich ab, wieder in einem irrsinnig hohem Gang, Fahrt aufzunehmen und verschwindet hinter einer Kurve. Es geht bergan für ihn. Mittags. Ein Wahnsinn ist das!

Für mich aber, was hatte er gesagt? 2 Kilometer? Für mich aber geht es erst einmal bergab. Ich setze mich, mache es mir bequem, und fahre an. Und tatsächlich, als ich die Kurve durchfahre, geht es merklich nach unten. Zunächst noch durch das Dorf - Geschwindigkeitsbuckel alle 100 m, sehr schnell werde ich nicht.
Kaum ist der Ortsausgang erreicht, schalte ich hoch und beschleunige.

35 Sachen, nächster Gang. Ich schalte gleich zwei auf einmal.
45, der Wind faucht und schlägt auf die Ohren.
50, ich kann mein Jauchzen kaum mehr verstehen, so laut ist der Fahrtwind.
55, die ersten Kurven reite ich in Schräglage ab, wie sie Jagdflieger in ihren Dogfights erleben. Ich schaue nach vorn, zitternd fliege ich über kleine Bodenwellen, stark zerrt der Meereswind mein Bike mal in die eine, mal in die andere Richtung. Ich habe die Hand an den Bremshebeln, tue aber einen Teufel, die Geschwindigkeit zu verringern.
60 km/h! Ich fliege. Mein Herz rast, fast schlagen die Segelklappen blutpumpend genauso schnell, wie mein Freilauf rattert. Eine kleine Steigung vor mir, ich nehme Moment mit, rase sie empor, erreiche den Kamm, bergab geht es, und ich fliege auf das Meer zu, geradewegs vor mir breitet sich die massive Bläue aus. Frischer Wind, es duftet. Ich schreie vor Freude, im Rausch des Speed.
63 km/h. Wir das noch mehr?

Nervös wie ein junger Hengst schlittert die schwer beladene Speedmachine über die Piste. Langen Geraden folgen enge Kurven, ich schieße über seichte Anstiege, um auf deren anderer Seite noch steiler bergab zu rasen.
So geht das. Ewig, habe ich das Gefühl. Aber 2 Kilometer sind 2 Kilometer. Das Meer kommt näher. Bald fliege ich auf einem schmalen Fels. Das Kap!

Am Leuchtturm bremse ich. Komme unter einem Obelisken, der den symbolträchtigen Ort markiert, zum Stehen. Zitternd, die Wangen fast kalt vom Fahrtwind, schnalle ich Helm und Handschuhe ab.
Was für ein Ritt - und das mit einem schweren Rad. Wie muss das erst ganz ohne Gepäck, mit perfekter Balance im Rad sein? Wieviel schafft man hier? 70, 75 oder gar 80 km/h? Ein Grollen holt mich ins Hier und Jetzt.

Cabo da Roca - es bittet zur Audienz.

Der Ausblick ist grandios. Dutzende Meter geht es einfach nur senkrecht nach unten. Dort, wo kochend der wütende Atlantik am Kontinent zu rütteln versucht, aufgehalten durch Jahrmillionen alte Felsen und gebrochen von scharfe Kanten, die meterhoch die mächtige Brandung aufhalten.
Ein Sound, den man kaum beschreiben kann - dumpf grollt der Bass des Ozeans, bis selbst hier hoch. Man kann sie spüren, die Kraft, im Bauch. Und um wieviel gewaltiger muss der Eindruck hier sein, wenn Sturm herrscht, wenn das Meer zu Demonstration seiner wahren Kraft anhebt?

Ich bin allein am Kap. Keine Touristen. Da biegt ein Reisebus um die Ecke. Öffnet die Türen. Menschen quellen heraus. Ich erkenne, selbst nur Sprachfetzen erahnend, ihre Herkunft. Es sind Polen.
Und da - anfangs belustigt, später ergriffen von diesem Symbol - durchfährt mich ein Gedanke an Europa. Dass ich hier am westlichesten Punkt des Kontinents, Menschen vom östlichsten Punkt des Kontinents treffe. Ein schöner Zufall. Flüchtig, vielleicht belanglos, aber ich mag das Bild. Schlägt es doch eine Brücke und manifestiert die Idee Europas, als Verbindung zwischen so vielen, so unterschiedlichen Völkern und Kulturen.

So nehme ich das Kap mit - als beeindruckenden Ort faszinierender Naturkräfte. Und als meinen ganz persönlichen Augenblick, an dem sich mir die Idee von Europa so anschaulich offenbahrt hat.

Zeit, weiterzufahren. Und da dämmert mir: Ich muss den ganzen Weg zurück! Wenn es vorhin mit meinem Rennradkollegen noch mit recht flotten 11, 12 km/h voranging, nie aber langsamer als 8, so hatte ich jetzt, vor allem auf den sehr steilen Stücken, Mühe, das Rad überhaupt steuerbar zu halten. Unter 6 km/h geht fast keine Kreiselkraft - und damit Stabilisierungswirkung - von den Rädern mehr aus. Ich muss heftig lenken und gegenlenken. Mühsam, schweißtreibend, nun schutzlos der unbarmherzigen Mittagssonne ausgeliefert, kurbele ich mich jene Strecke hoch, die ich vor wenigen Minuten noch freudeschreiend hinabgesaust bin.

Zwei Kilometer nur. Zwei mal eintausend Meter. Das klingt wenig. Zwei Kilometer. Wenn einen jede Kurbelumdrehung aber nur 20 Zentimeter weit bringt, und selbst diese eine, winzige Umdrehung Ressourcen verbraucht, die immens sind, dann ziehen sich diese zwei Kilometer in endlose Länge. In Leiden.
Dann werden aus zwei Kilometer plötzlich fünftausend Umdrehungen. Fünftausend mal ächzen und stöhnen. Fünftausend mal Schmerzen.
Mehr als einmal muss ich anhalten, Puste holen. Etwas trinken.

Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich das Dorf erreiche, an dessen Kreuzung ich mich vom Kollegen getrennt hatte. Und wenn die Geschwindigkeitshuckel vorhin noch nervten, jetzt sind sie mein Aus - um wieviel mehr an Kraft brauche ich, diese Betonwülste zu überfahren. Jedes Mal bleibt das Rad fast stehen, so langsam, schneckenartig krieche ich schweißtriefend über sie hinweg.

Nun bloß nicht überdrehen! Ja nicht übermütig werden - das kenne ich von anderen Bergen. Gerade gegen Ende einer Steigung, wenn der Kamm nur wenige hundert Meter entfernt ist, meint man, beschleunigen zu müssen. Meint man, nochmal anziehen zu müssen. Warum auch immer. Aber damit powert man sich aus, überdreht, setzt die ohnehin zum Zerreißen gespannten Sehen zu viel unter Spannung, provoziert schmerzhafte Krämpfe, versauert seine Muskeln, verschleudert sein letztes bisschen Kraft. Für nichts.
Also: Bloß nicht überdrehen!

Im Dorf. Es ist leer. Alle Fenster verrammelt. Fern zirpen Grillen, anscheinend die einzigen Geschöpfe, die sich zurzeit hier draußen aufhalten. Und die Polen am Kap, die mich gerade vorsichtig überholen, von oben runterstarren, hinter getönten Scheiben in ihrem klimatisierten Bus. Schon sind sie wieder verschwunden. Ich bin allein. Kämpfe mich voran. Und erreiche die Kreuzung. Schatten.

Ich schaue auf meine Karte. Dann auf die Hinweisschilder. Und mir schwant das nächste, Böse. Ich werde den Weg, den mein Radkollege vor einer Stunde ("Up there - Mountain!") gefahren ist, ebenfalls nehmen müssen.
Noch mehr Steigung. Noch mehr knallharte Sonne. Noch mehr Schweiß.
Ich bin alle. Und dann ist es noch so weit bis Ericeira, wo ich heute Zelten will. Es hilft alles nichts - auf gehts! Sporne ich mich an, atme einmal tief durch, sauge den Eukalyptus in mich hinein, trinke einen tiefen Zug Schorle und biege um die Ecke.

Es bleibt, wie es war: Bergig. Extrem. Serpentinen schrauben sich behäbig an steilen Abhängen hinauf.Staubtrockene Luft, unbarmherzige Temperaturen und eine wütend glühende Sonne tun das ihre. Ich schwitze, muss stinken wie ein Iltis, fällt mir ein. Aber wen interessiert das jetzt, wie ich dufte? Wobei mir schlagartig einfällt, dass ich mein Parfum mit im Gepäck habe. Mexx im schweren Glasflakon. So unnütz, wie ein Kropf. Lieber 200 Gramm weniger, dafür stinken und es leichter haben.
Ich kurbele.
Ich kurbele ...

Dann, nach schier endlosem Gestrampel, nach Spitzkehren, steilen Anstiegen, ganzen Kilometern ohne Schatten, dann kommt er endlich, der Pass: Ich habe die Spitze der Serra da Sintra erreicht. 490 Höhenmeter, sagt mein Plan. Na, einigen wir uns auf 400. Ich kann zur Spitze des Berges ja noch aufblicken.
Vor mir knickt die Straße ab. Zeigt wieder nach unten. Die Abfahrt. Lang ersehnt. 400 Höhenmeter bergab. Das Äquivalent von fast 3 Stunden sturem Bergauffahren. Ich habe es mir verdient.

Rasant geht es ab. Da kaum Verkehr ist, kann ich die gesamte Fahrbahn nutzen. Muss nicht ständig im Rückspiegel Ausschau halten. Kann rasen. Kann mich in die Kurven legen, mich behutsam reinbremsen, dann, am Scheitelpunkt, die Bremshebel loslassen, den Schwung mitnehmen, wie ein Pendel zur anderen Seite der Kurve hinausschießen, wieder abtauchen, Nase runter, Fahrt aufnehmen. Mein Puls rast. Mein schweißnasses Trikot trocknet.
Ich schreie wieder, breite die Ellenbogen aus, so, als wolle ich fliegen.
Schnell reite ich in den kühlenden Eukalyptuswald ein, schieße durch eine grüne Hölle. Wie Blitze tanzt das rasante Wechselspiel von Licht und Schatten auf meiner Sonnenbrille. Alles wackelt, alles fliegt, kaum Geräusche, nur der Wind, der mir um die Ohren knallt. Und was kann es schöneren Lohn für eine Plackerei wie diese geben, als eine solch kapitale Abfahrt am Berg? Mal den Blick raus aufs Meer geheftet, wie es näher kommt, reinbremsen, die Maschine wenden und zur anderen Seite runterschießen, auf einem Dach aus grünem Duftlaub schwebend.

Hinter der letzten Kurve, ich hebe meinen Kopf - der nächste Berg türmt sich auf.
Regel Nummer 1 in Portugal: Hast du einen Berg bezwungen, bekommst du zwei neue.

So geht das drei oder vier Berge lang. Kilometer auf Kilometer. Stunde um Stunde. Harte Anstiege, rasante Abfahrten. Oft allein, gern aber auch im dichten Verkehr, neben schweren LKW oder schnellen Porsches. Menschen jubeln wieder, winken mir zu. Das gibt Kraft.
An einem Brunnen mache ich Pause, trinke ausgiebig, kühle meinen Kopf unter dem kalten Quellwasser, fülle die Flaschen auf.

Ich passiere Sintra, die Gartenstadt, die aber nahezu ohne Eindruck zu hinterlassen an mir vorbeizieht. Die Sonne sinkt schon tiefer, kühler wird es aber nicht. Ab Sintra habe ich die letzten Ausläufer der gleichnamigen Serra überwunden. Von hier an geht es nur noch gemächlich bergan. Leider auch nur gemächlich bergab.
Ich fahre wieder streng nach Norden, linkerhand kann ich fern das Meer erkennen, in dem ich gleich baden werde. Denn Ericeira ist schon ausgeschildert. Die nagelneue Umgehungsstraße des Städtchens erinnert mich an deutsche Autobahnen - zwei Fahrtrichtungen, getrennt voneinander, zwei Spuren pro Richtung und mit einem extrem breiten Seitenstreifen ausgestattet. EU-Geldern sei Dank, hier haben die Straßenbauer einen Leckerbissen hingesetzt, fähig, der dichtesten, wildesten und schnellsten Blechlawine Stand zu halten.
Ich fahre allein auf diesem Highway.
Fühle mich so klein, so fehl am Platz, hier, auf dieser Rennstrecke für PS-Boliden. Fast wie der einzige Überlebende einer Nuklearkatastrophe.

Ich erreiche gegen 15 Uhr den Zeltplatz. Den Untergrund finde ich steinhart vor - es ist mir ein Rätsel, wie man auf diesem Betonboden einen Campingplatz eröffnen kann. Nur mit größter Mühe bekomme ich die Häringe in den Boden. Grobe Steine dienen als Hammer. Dem harten Untergrund sind meine Alu-Häringe natürlich nicht gewachsen.
Ich sollte mir bei Gelegenheit angespitze aus Stahl kaufen.
Doch irgendwann steht das Zelt, ich gehe duschen, ziehe meine gürtellose Schlabberjeans an, erkunde kurz das Terrain und finde einen Strand genau gegenüber vom Zeltplatz. Nun hole ich mir eine dicke Pizza, einen eiskalten Eistee, mache es mir auf dem Handtuch im heißen Sand bequem und esse. Brennender Hunger - das merke ich erst jetzt - treibt die Bissen runter. Kühlend und wohlschmeckend spült der Mango-Eistee hinterher.

Dann stürze ich mich in die Fluten. Hoher Wellengang - na, für einen, der seine Badewanne und Mecklenburger Seen gewöhnt ist, zumindest. Ich genieße den Kälteschock, dann die Abkühlung, die allmählich den total überhitzten Radlerkörper erfasst.

Ein, zwei Stunden liege ich noch in der Sonne. Dann schreibe ich Tagebuch, hole mir noch eine Kleinigkeit zum Abendbrot und falle gegen 21 Uhr - nicht ohne vorher ein paar SMS an Freunde und Familie zu schicken - in einen wohl verdienten, tiefen Schlaf. Daran kann auch die Kindergruppe, die Gitarrenmusiksingend neben meinem Zelt bis spät in die Nacht feiert, nichts ändern.

Eine tolle, eine rasante erste Etappe. Und eine, die mir schon viel beigebracht hat, über das, auf das ich mich hier eingelassen habe.

Gefahren: 99,4 km in 4 h 28 min und guten 22,6 km/h Schnitt

Keine Kommentare: