Tag 4 / Etappe 2 "Hitze und Berge. Und dann wieder ... Hitze und Berge."


Ericeira - Praia de Santa Cruz - Lourinha - Óbidos - Sáo Martinho de Porto

Es ist morgens. Die Sonne hat es noch nicht geschafft und arbeitet daran, die letzten Fetzen Nacht zu vertreiben, als ich aufwache, mein Handy anstelle und Punkt 7 Uhr meinen Kopf aus dem Zelt stecke. Dichter Nebel liegt über dem Zeltplatz. Es ist ruhig, nicht einmal Vögel zwitschern, und wenn doch, so dringt ihr Gesang doch nur gedämpft an mein Ohr. Der Nebel liegt wie eine Schweigedecke über dem Land.

Nachdem gestern Nacht irgendwann auch meine Nachbarskinder endlich mit dem Versteckspiel aufgehört und sich in ihre Zelte zum Gruselgeschichtenzuhören verkrochen hatten, Ruhe eingekehrt und auch der Verkehr der direkt über meinem Zelt hinter dem Zaun verlaufenden Umgehungsstraße zum Erliegen gekommen war, war ich eingeschlafen wie ein Baby. Der würzige Geruch des Latschenkiefers, mit dem ich meine brennenden Waden massiert hatte, muss mehr oder weniger heftig Träume mit Reminiszenzen an die nicht weniger würzig duftenden Eukalyptuswälder des gestrigen Berges ausgelöst haben. Und so hatte ich von endlosen Aufstiegen durch tiefe, heiße Wälder geträumt, war im Schlaf mindestens noch einmal 100 km gefahren.
Entsprechend schaue ich jetzt aus der Wäsche.
Ich warte noch ein Stündchen ab, döse immer wieder ein, bis mich eine SMS gänzlich weckt.

Acht Uhr. Zeit, Zähne zu putzen und sich abmarschbereit zu machen.
Eine Stunde später ist das Zelt abgebaut und die Sachen verstaut, steht die Speedmachine bereit vor mir. Ich habe mir einen Schutzschild aus 30-er Lichtschutzfaktor aufgetragen, schnalle den Helm auf und rolle vom Platz.
Der liegt freilich noch im Tiefschlaf, nur hier und da laufen vereinzelt Menschen in Bademänteln herum, tasten sich, noch halb schlafend, zu den Waschräumen oder zurück in ihre Schlafsäcke.
Neun Uhr, die Straße hat mich wieder.

Kurz hinter dem Campingplatz steuere ich erst einmal eine Tankstelle an, bestelle einen starken Bica und zwei Pastel de Nata und frühstücke. Wenn man das so nennen kann, denn fünf Minuten später beginnt sie dann wirklich, die Etappe nach Sáo Martinho de Porto, einem Badeort an einer der schönsten Badebuchten, wie ich gelesen habe.

Zunächst folge ich der Küstenstraße nach Norden. Zu meiner Verwunderung ist auch diese mit einem sehr breiten, glatten Radweg ausgestattet. Auf dem um diese Zeit, ebenso wie auf der Straße, fast niemand anzutreffen ist. Links von mir fällt das Ufer einige Meter steil ab, doch nur träge, so, als würde es auch noch dösen, plätschert eine schwache atlantische Brandung gegen den Stein. Dichter Nebel liegt über dem Meer, ich kann keine 20 Meter weit blicken. Feuchte Luft, von der noch schwachen Sonne erhitzt, kondensiert und zieht - in teilweise beeindruckend riesigen Schwaden - ins Landesinnere. Mir soll es Recht sein, denn je länger ich ohne direkte Sonneneinstrahlung in noch angenehmer Temperatur fahren kann, desto besser.
Ich komme gut voran - nur leicht geht es bergauf, leider ist auch das Bergab nicht der Rede wert. Mit 25 bis 27 km/h schieße ich trotzdem den roten Weg entlang, kann über mir einen blassen weißen Ball in der Luft hängen sehen - die Sonne, die verzweifelt versucht, sich den Weg freizubrennen.
Dass sie es schaffen wird, dessen bin ich mir sicher.

Ich erreiche Praia de Santa Cruz, einem ebenfalls sehr bekannten Badestrand, allerdings ohne dazugehörigen Badeort. Hier hat man einen riesigen Parkplatz neben die Straße gesetzt, ein, zwei kleine Pastelarias haben aufgemacht, ans0nsten sieht man nur Dünen und Dünengras. Es ist kurz nach 10 Uhr morgens, noch immer liegt Nebel über dem Land - aber der Parkplatz ist erstaunlich gut gefüllt. Es müssen Hunderte sein, die hier schon zum Baden sind. Ich sehe Familien mit Kindern, Pärchen und Ältere.
Alle treffen sich hier zum Morgenschwimmen.

Eine sonderbare Luft liegt in selbiger, eine Stimmung, eine ganz besondere. Ich kann sie leider nicht deuten, leider nicht in allen Einzelheiten erfahren - die Badenden zerstören einiges von diesem Eindruck, egalisieren ihn, machen aus ihm eine Kulisse. Was nicht weiter schlimm ist, denn ich bin mir sicher, dass es hier entlang dieser unendlich langen Küsten noch Abschnitte geben wird, die bei Tagesanbruch, in diesem ganz speziellen Licht, nicht in Kindergebrüll und die Rauchschwaden der quarzenden Elterngeneration untergehen.
Ich fahre weiter.

Um es gleich vorweg zu nehmen - ich werde heute den ersten großen Fehler der Tour begehen. Ein Fehler, der mich einiges kosten wird. Kraft, Zeit vor allem, aber auch Motivation. Aber ein Fehler, aus dem ich lernen werde.

Es geht gen Ribamar, als ich falsch abbiege. Ich folge einem Flusslauf, was kein Wunder ist, denn wer kann ahnen, dass die die weitaus bessere Straße ins Nichts, die schlechtere Straße, die ich meide, hingegen zum Ziel führt? Kein Schild weist den Weg, keiner, den man fragen könnte. Ich biege also falsch ab. Und folge dem Lauf eines kleinen Flusses.

Schon nach wenigen hundert Metern finde ich mich an einem der romantischsten Orte wieder, die ich bisher gesehen habe: Ruhig, spiegelglatt liegt der Fluss in seinem Bett. Links und rechts, bis hinter zum Horizont türmen sich dicht bewaldete Berge auf, dampfend liegen die Wälder im Morgennebel, seltsam spiegelt sich ein jungfräuliches Rosa im Wasser des Flüssleins. Es ist die pure Freude, hier entlang zu fahren. So ein wunderschönes Tal.
Bis mir endlich dämmert, dass das hier nicht richtig sein kann - ich folge dem Fluss ins Inland, müsste aber eigentlich an der Küste weiterfahren. Das kann nicht stimmen!
Ich komme an einem Golfplatz vorbei, vier Männer wässern den Rasen. Ich halte an und frage sie, wo es nach Ribamar geht. Sie grinsen, deuten dann in die Richtung, aus der ich gerade komme.
"Back, and then right?", frage ich, gestikuliere.
"Sim, sim!", machen sie.
Seufzend wende ich. 3 oder 4 Kilometer umsonst. Was nicht schlimm ist, hier ist es flach. Einige Minuten später bin ich wieder bei der Abzweigung und biege auf die richtige Straße ein. Folge ihr, und sehe mich hinter einer Kurve mit ihm konfrontiert.

Ich weiß, ihn als Person, als Wesen zu sehen, ist vollkommen irrational und dumm. Vielmehr projiziere ich in den Anstieg, der da steil vor mir liegt, all die Ängste und negativen Gefühle, die ich habe. So abrupt, so unvorhergesehen stellt mir die Natur diesen Berg in den Weg. Es ist noch früh am Morgen! Verdammt - und dann sowas?

Ich taufe ihn "Höllenberg" - es ist eine Steigung von einer Steilheit, wie ich sie in Portugal bis hierher noch nie erlebt habe. Eine lang gezogene Linkskurve, die zu einer Rechtskurve wird und dann im Wald verschwindet. Der Berg ist nicht hoch, überhaupt nicht hoch. 50, vielleicht 80 Höhenmeter, schätze ich, maximal. Wenn überhaupt.
Aber er ist steil.
Von einer Steilheit, dass instinktiv meine Knie schmerzen.

In Portugal gibt es keine Schilder, die den Grad der Steigung in Prozent angeben. Wie auch? Der Staat würde Pleite gehen, alle paar Kilometer so ein Schild aufstellen zu müssen - das ganze Land wäre zugepflastert mit ihnen.
Ich schätze, hier würde eines mit "10 %" aufgedruckt stehen, wenn nicht mehr.

In den kleinsten Gang geschaltet. Angerollt. Noch geht es gut. Dann stellt sich die Speedmachine bergan, mein Tritt wird langsamer, der Druck an den Pedalen größer. Beine voraus liege ich am Berg und stoße mich hoch. Mit 6, 7 km/h, gerade noch steuerbar, geht es im Ameisenspeed den Berg hinauf.

Ich schnaufe, trete. Gebe alles. Da saust grüßend ein Rennradfahrer an mir vorbei. In Gegenrichtung, versteht sich. Er macht sich ganz klein im Wind, duckt sich weg, das müssen 60, 70 km/h sein, die er drauf hat. Neidisch schaue ich in den Rückspiegel, sehe gerade noch, wie er rasend tritt, selbst im größten Gang kann man seine rotierenden Füße kaum erkennen, so schnell ist er. Tja, anders herum müsste man diesen Berg hinab fahren. Oder geht es auf der anderen Seite auch so steil wieder hinab? Hat der Mann gerade womöglich denselben Stress hinter sich?

Das gibt Kraft. Ich trete weiter, konzentriere mich. Zum Glück ist die Sonne noch nicht ganz draußen, zumindest hält der Nebel, der immer noch vom Meer her kommt, einen Teil ihrer Kraft zurück. Aber es ist feucht, sehr feucht, und so weicht mein Trikot durch, fühle ich die Hitze meines Körpers von der Brust her, sie strahlt in mein Gesicht ab. Schweißperlen stehen auf Stirn und Unterarmen. Meine Knie glänzen. Ich laufe aus.

Hälfte geschafft.

Ein paar Autos überholen mich. Langsam, vorsichtig. Selbst die PS-strotzenden Blechkisten kommen nur im zweiten Gang gegen den Höllenberg an. Einige hupen und winken - ich kann nur ein wenig meinen Zeigefinger heben - für alles andere bin ich zu schwach, zu sehr brauche ich jetzt jedes bisschen Energie, um diese höllische Steigung zu meistern.

Weiß sammelt sich Sonnencreme, vom Schweiß weggespült, in den Beugen meiner Arme. Ich bin vollkommen außer Puste, als ich oben ankomme. Hinter der Rechtskurve verschwinde. Den Höllenberg gemeistert habe.
Ich habe Dich besiegt, Du Riesensteigung! Ich jubele.

Schaue mich um, blicke hinab auf den Abgrund, den ich soeben überwunden habe.
Schwer atmend, weiche Knie. Die Waden brennen. So schalte ich ein paar Gänge höher und fahre in der Erwartung meiner Belohnung - einer steilen Abfahrt, um die nächste Kurve. Um enttäuscht zu werden - statt massiver schräger Ebene nach unten, geht es milchmädchenmäßig etwas bergab, doch das reicht nicht einmal, um ohne zu treten auf Geschwindigkeit zu kommen. Ich bin enttäuscht, aber vielleicht hinter der nächsten Kurve?
Hinter der wird es noch schlimmer.
Eine neue Steigung. Fast so steil wie die des "Höllenberges".

Also wieder herunter schalten. Kleinster Ganz. Ruhig drehen. So schraube ich mich in Schritttempo den nächsten Berg hoch. Nicht ganz so steil, dafür länger. Vier, fünf, sechs Serpentinen folge ich, bis ich ein kleines Dorf errreiche.
Mittlerweile ist der Nebel fort. Die Sonne kann anheben, ihr heißes Werk zu beginnen. Schlagartig wird es heiß. Und ebenso schlagartig ist die Feuchte des Morgens verbraucht. Weg gedampft, ausgetrocknet. Wo eben noch frischer Meerestau auf sattgrünen Blättern feucht glänzte, ist jetzt nur noch eine matte Oberfläche, staubtrocken, und etwas Salzkruste übrig geblieben. Auch mein Trokot ist schlagartig trocken - jetzt holt sich die Sonne, was ihr gehört.

Das Dorf selbst ist eine einzige Steigung. Sanft zwar, leicht zu fahren, aber bergan ist bergan. So fahre ich langsam durch die Siedlung. Leute starren, anderen rennen plappernd ins Haus und kommen mit der halben Familie wieder heraus. Kindern bleibt der Mund offen stehen, Ältere Herren drehen sich einfach nur um und folgen mir mit ihren Blicken. Hier jubelt keiner mehr - hier wundern sie sich alle nur.


Und hier passiert es dann auch, als sich mein Verstand und das Schicksal gegen mich verbünden und mich auf einen Irrweg schicken. Ich halte an und frage eine Frau: "Ribamar?", deute dabei geradeaus. Geht es hier nach Ribamar?, frage ich sie.
"Náo, náo." macht sie und schüttelt den Kopf. Dreht sich um und zeigt in die Richtung, aus der ich gerade komme.
Wie? Was? Zurück?
Ich kann es nicht glauben.
"Ribamar - back?", frage ich ungläubig.
"Sim, sim!", macht sie, lächelt mich an. "Ribamar", und wie zur Bestätigung macht sie mit den Händen eine Wellenbewegung. Ja, ja, der Höllenberg, ich weiß.
Ich bedanke mich. Wende mein Bike. Okay, dann also zurück. Kein Ding. Muss ich wohl was übersehen haben. Ist ja nicht das erste mal heute.

Aber so, denke ich mir, habe ich wenigstens Gelegenheit, den Höllenberg mal anders herum, wie der beneidete Rennradfahrer von vorhin, abzureiten. Diese Höllensteigung mal von oben nach unten zu befahren. Und so freue ich mich auch ein bisschen.
Immerhin geht es fast den gesamten Weg zurück nach Praia de Santa Cruz bergab. Irgendwie hat es ja auch sein Gutes.
Also haue ich rein, gebe Gas.

Und schon nach einer Minute habe ich vollen Speed, schieße die Dorfstraße hinab, dann die lange Abfahrt, die zweite Steigung von vorhin, die mich so viele Seufzer gekostet hat. Ich schalte in den höchsten Gang, trete, erst hart, dann geht es schneller. Wie gestern, erfasst mich ein Rausch. Es ist die Geschwindigkeit, die ganz besoffen macht, es ist die Schräglage in der Kurve, die Fliehkraft, die einen am Ausgang jedes Richtungswechsels noch einmal 5 km/h drauflegen würde, es ist das Surren des Freilaufs, das wie Aufatmen meiner Technik klingt. Nein, nicht wie Aufatmen - wie Beifall! Es spornt mich an, noch schneller! Noch schneller!
Dann die kleine Steigung - die enttäuschende Abfahrt von vorhin. Sie ist armselig, nimmt mir keinen Speed. Ich schieße über sie hinweg, einfach so, kommentarlos, bergan? Geht es hier nicht, ich bin viel zu schnell. Letzte Linkskurve vor dem Höllenberg. Ich presse mich in meinen Sitz, umfasse die Bremshebel - dann neigt sich die Nase meines Rads nach unten - ich blicke auf die Straße, die steil vor mir abfällt. Fast senkrecht, habe ich das Gefühl.
Wie eine mächtige Faust im Rücken, die mir einen Schlag versetzt, nimmt mein Gefährt noch einmal Fart auf. Brutal faucht es, als ich noch einmal beschleunige. Ich muss mich konzentrieren, voll und ganz auf das kurze Teilstück, das ich da gerade im Kamikazeflug hinabschieße. 65 km/h, da bremse ich - das Bike fängt an zu schlingern. Tribut der schweren Zuladung. Und schon bin ich unten, lange Rechtskurve. Ich nehme viel Fahrt mit. Bis Praia brauche ich nicht mehr treten.

Dort angekommen hat sich das lebhafte Treiben sogar noch vergrößert. In der knappen Dreiviertelstunde, die ich weg war, scheinen noch einige hundert Badewillige mehr angereist zu sein. Und da endlich kommt es mir in den Sinn, einen Taxifahrer, den ich geduldig am Straßenrand neben seinem Peugeot warten sehe, zu fragen - der müsse es ja schließlich wissen.
Ich rolle also hin, begrüße ihn mit meinem besten "Bom dia, o Senhòr" und frage, ob er ein bisschen Englisch spräche.
"Not many", antwortet er. Das reicht schon - mehr als die meisten, grinse ich und frage, wo es nach Ribamar gehe. Er grinst da auch. Und deutet in die Richtung, aus der ich heute morgen gekommen war. Wie? Ganz zurück? Und dann deutet er in die Richtung, aus der ich gerade komme und die ich vorhin eingeschlagen hatte. Wie jetzt? Wohin denn nun?
"Ribamar direita", sagt er, rechts herum also.
"Ribamar esquerda", sagt er weiter, links also.
Ich zucke die Schultern hoch und schaue ihn mit großen Augen an: Links? Rechts? Die Erde ist rund und ich kann fahren, wohin ich will? Wie denn nun?
Ah, ich zeige ihm meine Karte.
"Praia de Santa Cruz", sagt er und drückt seinen zigarettengelben Finger auf die Stelle, an der wir gerade sind.
"Sim", antworte ich. Soviel weiß ich auch schon.
Dann fährt sein Finger nach Süden: "Ribamar", sagt er. Das steht da auch. Aha, also war ich heute morgen schon in Ribamar? Habs nur nicht bemerkt?
Weiter fährt sein Finger, wieder zurück nach Praia de Santa Cruz und weiter nach Norden: "Ribamar", sagt er wieder. Und da steht es auch wieder.

Ich kann meinen Augen nicht trauen: Praia wird von 2 Dörfern mit dem selben Namen eingerahmt! Und sofort realisiere ich: Ich muss den Höllenberg wieder hoch! Zum zweiten Mal! Ich fasse es nicht! Ich war richtig, vorhin, im echten Ribamar. Und als ich die Frau gefragt hatte, wo es nach Ribamar gehe, hat sie wahrscheinlich angenommen, ich meinte das andere, durch das ich längst schon gefahren war. Meine Güte, auf sowas muss ich hier in Portugal also auch noch achten?
Ich kann nur noch fassungslos mit dem Kopf schütteln, ob meiner Doofheit. Da steht es, auf der Karte - ich hätte sie nur einmal aufmerksam anschauen müssen. Die ganze Mühe der letzten Stunde umsonst. Die ganze Häme ob des besiegten Höllenberges - verpufft. Nun muss ich diese fiese Mördersteigung wieder hinauf. Und nun, das merke ich sogar, wenn ich mich nicht bewege, ist es erst richtig heiß geworden.
Unfassbar.

Ich bedanke mich beim Taximann, steige ächzend in die Speedmachine und rolle an. Da hinten, da gähnt er, der schwarze Asphalt, heiß, dampfend, liegt er da und windet sich wie ein zäher, dunkler Lavastrom den Berg hinauf. Und ich bin mir sicher: Es wird nicht leichter sein, ihn das zweite mal zu bezwingen.
Und ich behalte Recht. Schon die ersten paar Meter bereiten mir derart Probleme, dass ich es erst gar nicht weiter versuche, liegend diese Steigung zu bezwingen. Ich schiebe das Rad hinauf - was am Ende mehr Energie kostet, denn um ein so tiefes Rad schieben zu können, muss man sich entsprechend krumm machen. Andererseits lenken die Rückenschmerzen von den Wadenkrämpfen ab ...

Später, ich zähle nicht mehr die Stunden, erreiche ich wieder Ribamar, wo ich vorhin umgekehrt war, treffe auch die Frau wieder, die mir den Rat gegeben hatte, umzukehren. Zweifelnd schaut sie mir hinterher. Ich finde es peinlich, tue so, als hätte ich sie nicht gesehen. Sie muss mich für einen Vollidioten halten.

Du hattest Deine Rache, Gott der Berge, denke ich mir und bitte um Gnade für den weiteren Verlauf dieser Etappe - immerhin liegen noch mehr als zwei Drittel vor mir. Und siehe da, er hat Gnade, und so erreiche ich, nur manchmal aufgehalten von kleineren, seichteren Anstiegen, Lourinha, die nächste größere Stadt. Kaum Zeit zum Verweilen - es hätte auch nichts gebracht, denn erstens hat in dieser Hitze eh kein Geschäft offen, da Siesta ist, und zweitens steht mir auch gar nicht der Sinn nach Sightseeing. Ich kaufe mir einen Snack - Sandwich & Wasser - verspeise es, mache mir ein paar Notizen und weiter geht es.

Mittlerweile steht die Sonne genau über mir. Selbst wenn es hier Bäume am Straßenrand geben würde, sie könnten auch keine senkrechten Sonnenstrahlen auffangen. Ich habe das Gefühl, dass ich im Sitz meines Rades schwimme. Alles ist nass, fühlt sich verbraucht an. Das Leder meiner Handschuhe - mit dem Talg meiner Hände vermengt und in Nässe des Schweiß getränkt - geben einen Ekel erregenden Geruch ab.

So also ist das, wenn man in der Knallesonne fährt, denke ich mir. Bei der Tour de France sieht das alles immer so idyllisch aus. Hier draußen, im Einsatz, ist das freilich ein ganz anderes Bild. Und dabei habe ich es noch vergleichsweise gut: Ich kann relativ entspannt im Bike liegen, habe keine schnaufende Konkurrenz in meinem Nacken, fahre nicht unter Zeitdruck (naja ...) und muss auch keinen Sponsor mit Bestleistungen beglücken. Nein, und trotzdem ist es eine Strapaze sondergleichen, hier an Portugals Küste zu fahren.

Von der ich mich im übrigen immer weiter entferne. Fast schon kann ich das Meer nur noch am Horizont erahnen, denn ich steuere das Rad gen Inland. Und merke es auch sofort: Die Hitze steht. Kaum noch Wind, von frischer, feuchter Meeresbrise ganz zu schweigen. Hier herrscht einfach nur drückende Hitze. Glut steht auf dem Asphalt. Ich könnte anhalten und die Temperaturen aufsammeln. Die Grad Celsius wie im Kelch beider Hände tragen, bilde ich mir ein. Es ist affenheiß!
Mein Atem, da bin ich mir sicher, ist hier die einzige H2O-Quelle in Kilometern!

Dafür werden die Hügel, die ich nun überwinden muss, seichter. Die Steigungen leichter, aber auch länger. Was am Ende, glaube ich, am Gesamtaufwand, die Strecke zu machen, nicht viel ändert. Das wäre doch mal was für Galilieo Mystery oder eine dieser "Infotainment"-Sendungen: Was ist besser: 5 steile, dafür kurze Berge oder einen, dafür sehr lang gezogenen Berg bei selber Strecke?
Mit solchen Fragen und der, ob Singvögel hier auch Siesta machen, beschäftige ich mich.
Ich bevorzuge, um das dann mal abzuschließen, wohl eher die lang gezogenen Berge: Immerhin bieten die dann auch längeren Abfahrten mehr Zeit für Erholung. Wobei, so eine rasante Schussfahrt hat ja auch was ... (Ich bin mir sicher, dass ich im Laufe meiner Reise noch eine Antwort finden werde, denn ich ahne, dass dies hier alles nur ein Vorspiel ist)

Die Landschaft wird immer grüner. Je mehr ich fahre, desto dichter der Pflanzenbewuchs. Und dann, ich fahre um eine Kurve, kann ich nicht anders, als "Geilomat!" zu rufen: Unter mir tut sich eine grandiose, steile, scharf geschnittene Schlucht auf. Sie reicht mindestens 200 Meter in die Tiefe. Dicht bewaldete, steile Berge säumen sie ein, ich sehe unter mir die Straße in Serpentinen übergehen, spitze Felsformationen umschiffend. Ich stehe da und staune. Muss anhalten, an den Rand der Schlucht treten. Unter mir fliegen Vögel die Länge der Schlucht ab. Ein zugiger Wind zieht durch das Tal. Es ist ein berauschender Anblick. Ich freue mich. Vor allem freue ich mich auf die Abfahrt.
Es ist die Straße, die ins Dörfchen Rolica führt, einem, das auf meiner Strecke liegt.

Wie trunken von Geschwindigkeit gebe ich mich den Kurven hin, lege einen Raumflug auf den Asphalt, sondergleichen. Ich jauchze mich von Kurve zu Kurve, es kann mir gar nicht schnell genug gehen. Immer mehr schneide ich die Strecke, komme auf die gegenüberliegende Fahrbahn, lenke härter, bremse weniger. Auch das nervöse Schaukeln der schwer beladenen Speedmachine versuche ich zu irgnorieren - nicht jetzt, nicht hier! Diese paar Minuten sind der Lohn heute, diese Schlucht, diese Abfahrt von Rolica das Geschenk an mich, der ich zwei mal den Höllenberg hoch musste.
Wahrlich, ein Höhepunkt.

Es stehen mir Tränen in den Augen, als ich unten ankomme, ein paar Fotos mache und gierig an meiner Wasserflasche sauge. Ja, genau, denke ich mir, deshalb mache ich das hier! Deshalb schwitze ich, deshalb ignoriere ich das Brennen in den Muskelsträngen - für diese Augenblicke, für die Eukalyptusbäume, die zischend an mir vorbeirauschen, für den Rollsplit auf der Straße, der mich bei 65 km/h fast zum Sturz bringt, für das Adrenalin, das mir jetzt förmlich aus den Ohren fließt.
Ich zittere.
Und muss es einfach noch einmal sagen: Geilomat!

Der Weg in die geschichtsträchtige Stadt Obidós ist nicht weiter schlimm. Schon von weitem kann ich die beeindruckende Wehrburg auf dem Gipfel des Stadtberges erkennen. Riesige Mauern, Spitze Zinnen und eine brutale, dunkle Farbe erzeugen Ehrfurcht, vor diesem Bauwerk.

Ich nehme die Nationalstraße N8, die parallel zur nagelneuen Autobahn verläuft. Sie wird mich nach Caldas da Rainha bringen. Und da alle Autofahrer die Autobahn nutzen, habe ich auf der Straße fast keinen Verkehr. Zwar nervt das Geräusch der hoch über mir auf Stelzen getragenen Schnellfahrbahn, aber dafür komme ich sehr gut voran. Was doppelt gut tut, denn mir werden langsam die Beine schwer - immerhin war die Etappe gestern auch nicht gerade ein Kindergeburtstag.

In Caldas komme ich an einen Kreisverkehr, der so unverständlich beschildert ist, dass ich lieber in einem Café die Leute nach dem Weg frage. Wie so oft, kann niemand Englisch. Einer der älteren Herren kommt - nachdem er das obligatorische Handyfoto von meinem Bike gemacht hat - zu mir und fragt, ob ich Französisch könnte. "Non." sage ich und zucke bedauernd mit den Schultern, deute auf meine Ohren und gebe ihm zu verstehen, dass ich ihn nicht verstehe.
Er redet weiter.
Wie Französisch klingt das zwar auch nicht, aber er zupft mir am Arm, "Ingles, ingles." sagt er immer wieder. Zwei Läden weiter brüllt er etwas in die Tür. Wenig später kommt ein junger Mann in meinem Alter herunter. Der Alte sagt etwas, ich lächle ihn an und begrüße ihn.

"Can you tell me the way to Sáo Martinho de Porto?" frage ich.
"Yes, Yes." sagt er. "I´m going to send you to the sea. To the sea - this way", macht er und deutet auf einer der etwa 24 Ausfahrten des Todeskreisels von Caldas da Rainha. "When you reach it - turn right. And then - straight on!"
Ah, mache ich, lächle, bedanke mich und gehe mit dem Opa zurück zu meinem Rad. Die Menschentraube ist noch nicht kleiner geworden und so trage ich zur allgemeinen Belustigung bei, entlocke das eine oder andere "Whoppa!" und Lachen aus den Mündern, als ich mich in den Sitz gleiten lasse, "Obrigadu!" rufe und winke.
"Bom viagem!" rufen sie mir nach - Gute Reise!

Das ist das Schöne an Portugal: Niemand sagt hier "Ich weiß es nicht!" oder schüttelt abwehrend den Kopf. Hier gibt man sich Mühe, das erlebe ich immer wieder. Und man lässt den Hilfesuchenden nicht eher gehen, bis dieser weiß, wo er hin soll - und wenn das bedeutet, dass man ihn zwei Läden weiter schleifen muss bis man jemanden gefunden hat, der Englisch kann.

Der junge Mann schickt mich in die falsche Richtung. Naja, nicht in die Falsche an sich, es liegt auch ein bisschen an mir, denn ich ich hätte ihm sagen sollen, dass ich mit Fahrrad reise. So aber ist die Strecke, die er sich für mich ausgesucht hatte, noch einmal mit fiesen Bergen übersäät und einfach nur zum Schreien. Die Nordroute wäre nicht nur kürzer - weil direkter - sondern auch flacher gewesen. Aber woher soll ich das auch vorher wissen?

Zunächst folge ich der Straße bis zum Meer. Merklich ruhiger wird es, je näher ich dem Ozean komme, was ich sehr begrüße. Nur och vereinzelt werde ich überholt, die Straße bietet wieder einen schönen breiten Seitenstreifen. Doch dann, ich biege rechts ab, weil vor mir nur noch Wasser ist, geht es los. Ein ewiges Auf und Ab folgt. Den ganzen Weg, ich schätze so 15 bis 20 km bis Sáo Martinho. Richtig heftig wird es noch einmal in einem Örtchen namens Foz do Arelho, wo der 160 m hohe Serra do Bouro mit einer dem Höllenberg absolut ebenbürtigen Steigung aufwartet - deren letztes Stückchen ich wieder schieben muss.

Es ist 16 Uhr und es wiederholt sich das Schauspiel von heute morgen: Dichter, reinweißer Wasserdampf zieht vom Meer herauf. Willkommene Abkühlung, frische, salzige Brise in den Lungen, die eine Wohltat ist. Freilich, die Temperatur kann der Dampf nicht senken. Eher fühlt es sich an, als stünde ich vor einem Dampfbügeleisen und gäbe volle Power. Aber merklich die Entlastung, wenn die Sonne nicht mehr direkt auf mich einprügeln kann.
Es geht stramm bergauf und bald fahre ich 20 oder 30 Meter über Meeresniveau auf einer Straße, die eingerahmt wird von mit Sicherheit messerscharfem Dünengras. Perfekt zum Wildcampen, denke ich mir und freue mich statt dessen, dass es nicht mehr weit bis zu meinem Campingplatz sein kann.

Ich fahre noch eine halbe Stunde, als ich ihn erreiche. Die megabreite, weiße, omegaförmige Bucht, die nur einen schmalen Ausgang zum Meer, flankiert von zwei mächtigen, rot schimmernden Felsen, hat, ist randvoll gefüllt mit Badegästen.

Wenn Praia de Santa Cruz schon voll war - Sáo Martinho quillt über vor Menschen. Mir ist klar, dass ich hier heute nicht ins Meer gehen werde. Ich hasse Massen. Vor allem Badende.

Der Campingplatz ist super. Die Leute freundlich und bald schon finde ich einen schönen Platz, wo ich - diesmal in angenehm weißem Untergrund - mein Zelt aufschlagen kann. Schnell bin ich geduscht, dufte nach Lotion, glänze penatenmäßig und fühle mich frisch. Endlich ist der Schweiß ab, die weiße Lorke aus Sonnencreme und Körpersalzen, endlich der Körper runtergekühlt - ich lechze nach einem kalten Bier und einer ordentlichen Portion. Die ich mir auch gleich im Strandrestaurant in Form eines Riesenhamburgers hole.

Ein toller Ort - wenn man diese Art von Urlaub mag. Sicher gibt es hier eine Menge Bars und Diskos, eine breite Strandpromenade zum Bummeln und Eisessen. Mir aber ist das nichts - wozu flannieren, wenn man keinen hat, um dessen Hüfte man seine Arme legen könnte?
Stattdessen suche ich die andere Richtung - weg von den Massen, und beschließe, die Felsen am Ausgang der Bucht zu erklettern.

Die richtige Idee für einen, der sich gerade 5 Stunden in der Sonne abgemüht hat, möchte man meinen, aber meinen Gelenken tut es gut. Tatsächlich erreiche ich den Ausgang der Bucht genau in dem Moment, an dem die Sonne untergeht.
Ein tolles Gefühl, und welch´ prächtige Farben! Leider rollt auch die Flut massiv in die Mondsichelbucht ein, sodass ich mich spute, zurück ins Zelt zu kommen, bevor das Wasser so hoch steigt, dass es meinen Hinweg versperrt.



Und als dann gegen zwei, drei Uhr nachts auch meine Technojüngerzeltnachbarn Ruhe geben - nicht weil sie schlafen, sondern weil in Portugal "Nachtleben" erst um diese Uhrzeit beginnt und sie wohl einen der unzähligen Clubs heimsuchen - ist auch für mich an einen ruhigen, schönen Schlaf zu denken.

Gefahren: 106,3 km in 5 h 13 min und 20,34 km/h Schnitt.

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